Gemeinwohl-Ökonomie (GWÖ) ist eine Reformbewegung, die ein alternatives Wirtschaftsmodell anstrebt. Sie geht auf ein 2010 erschienenes Buch des Österreichers Christian Felber zurück. Mittlerweile hat sich hieraus eine weltweite Bewegung entwickelt, die sich in unterschiedlichen nationalen und regionalen Vereinen organisiert. In Bayern ist der Verein Gemeinwohl-Ökonomie Bayern e.V. Ansprechpartner und Unterstützer auf dem Weg zur Gemeinwohl-Zertifizierung. Neben einer Vielzahl von Wirtschaftsunternehmen haben sich in Bayern erst zwei Kommunen erfolgreich zertifiziert: Auf die erste bayerische Gemeinde Kirchanschöring im Landkreis Traunstein folgte Postbauer-Heng, das Ziel unserer GRIBS-Bildungsexkursion im März 2023.
Mensch und Umwelt im Mittelpunkt
Im Mittelpunkt der GWÖ, des „Wirtschaftsmodells mit Zukunft“, steht der Mensch und die Umwelt. Die Zertifizierung erfolgt mittels einer „Gemeinwohl-Bilanzierung“. Ziel dieser Bilanzierung ist es, den Beitrag der Kommune für Mensch und Umwelt messbar zu machen. Als Grundlage hierfür nimmt die GWÖ Bezug auf Werte, die vorwiegend aus demokratischen Verfassungen entnommen wurden. Neben dem bekannten Art 14 Abs. 2 unseres Grundgesetztes „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen“ steht in unserer Bayerischen Verfassung in Art. 151 Abs. 1 „Die gesamte wirtschaftliche Tätigkeit dient dem Gemeinwohl […]“.
Wirtschaftliche Tätigkeit dient dem Gemeinwohl
Menschenwürde, Solidarität, Ökologische Nachhaltigkeit, Soziale Gerechtigkeit, Transparenz und Demokratie – das sind diejenigen Werte, die in einer Matrix jeweils in Bezug gesetzt werden zu den sog. „Berührungsgruppen“, denjenigen betroffenen Personengruppen, die vom Handeln der Kommune betroffen, also „berührt“ sind. Dies sind z.B. Lieferant*innen, Geldgeber*innen, Politische Gremien und Verwaltung, aber auch die Bürger*innen sowie Staat, Gesellschaft und Natur.
Nach einem Punktesystem wird untersucht, inwieweit die Werte auf der einen Seite beim Handeln auf der anderen Seite berücksichtigt werden. Je besser der Einsatz für das Gemeinwohl, desto mehr Punkte bekommt die Kommune. Der Beitrag zum Gemeinwohl wird so nicht nur gemessen, sondern vor allem für alle sichtbar gemacht.
Warum Kommunen?
Städte und Gemeinden sind in der allgemeinen Wahrnehmung in einem nicht zu unterschätzenden Maße wirtschaftlich tätig, so zum Beispiel bei der Beschaffung für den Verwaltungsbedarf oder bei Ausschreibungen für Straßen- und Wohnbauprojekte. Sie können darüber hinaus Einfluss nehmen auf Unternehmen in privater Hand, z.B. bei der Auswahl zu vergebender Gewerbeflächen. Durch ihr sehr breites Aufgaben- und Tätigkeitssprektrum können sie Multiplikatoren für Gemeinwohl-Ökonomie sein. Sie haben es in der Hand, demokratische Bürgerbeteiligungsprozesse anzustoßen.
Und wie sieht das in der Praxis aus?
In Postbauer-Heng startete alles mit einem einstimmigen Beschluss des Marktgemeinderates zur Gemeinwohl-Zertifizierung. Sehr breiter Rückhalt sowohl im Rat als auch in der Verwaltung ist eine Grundvoraussetzung für ein erfolgreiches Gelingen. „Das Thema muss Chefsache sein, sonst wird es nichts!“, so die Aussage der 2. und 3. Bürgermeisterinnen von Postbauer-Heng. Im zweiten Schritt wurde ein Kernteam aus Bürgermeister*innen, Geschäftsführer, GWÖ-Berater*innen gebildet, das den gesamten Zertifizierungsprozess koordinierte und begleitete.
Das Thema muss Chefsache sein, sonst wird es nichts!
Die Bilanzierung nach der o.g. Matrix erfolgte in Workshops. Für jede Berührungsgruppe fand ein gesonderter Workshop statt, eingerahmt von einer Auftakt- und einer Schlussveranstaltung. In den Workshops wurden neben der Bilanzierung und damit der Erhebung des Ist-Zustands auch weiterführenden Ziele erarbeitet. Von diesen ca. 200 Zielen priorisierte der Marktgemeinderat in einer Abschlussklausur 12 Punkte, die innerhalb der zwei folgenden Jahre auf den Weg gebracht werden sollen. Dann nämlich findet die Re-Zertifizierung statt – GWÖ ist ein laufender Prozess, der immer wieder überprüft und angepasst werden kann.
Einer der 12 Punkte ist die Erstellung einer Beschaffungsrichtlinie. Dazu mehr hier: […]
Was bringt die GWÖ-Zertifizierung?
Durch den fortlaufenden Prozess werden immer wieder systematisch alle kommunalen Themen auf die Werte der Matrix hin durchleuchtet. Der aktuelle Stand und auch Defizite werden sichtbar. Ein neues Denken manifestiert sich, das nach außen sichtbar ist und so für Verbreitung sorgt.
Und so ist es nur logisch, dass in Postbauer-Heng der Erfolg der Zertifizierung auch gebührend mit allen Bürger*innen bei einem GWÖ-Bürger-Erlebnisfest gefeiert wurde.
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