Bezirkstag-Bildungsreise 2019 nach Leipzig

Ein politischer Erkundungsbesuch in Leipzig
Der sozialpolitische Blick über den Tellerrand hat bei den Bayerischen Bezirksrät*innen der GRÜNEN bereits Tradition.

27. März bis 29. März 2019

Schon zum vierten Mal unternahmen sie eine Bildungsreise zur sozialpolitischen Horizonterweiterung in andere (Bundes-)Länder, um sich über best-practice-Beispiele im Bereich der überörtlichen „Sozialhilfe“ zu informieren. In diesem Jahr ging es nach Sachsen, genauer gesagt nach Leipzig. Das Reiseziel war bewusst gewählt, denn Leipzig zählt in der Szene als DIE Stadt mit einer relativ guten und bunten sozial-psychiatrischen Versorgungsstruktur. Dies hat u.a. in der Reform-Bewegung innerhalb der Psychiatrie zu tun, die nicht zuletzt von Leipzig aus mit dem Vordenker und Psychiatrieprofessor, Dr. Klaus Weise, ihren Anfang nahm und 1963 in Rodewisch in die sogenannten Rodewischer Thesen zu Papier gebracht wurden.

 
In der Fortsetzung wurden in Leipzig bereits in den 70er Jahren unter Achim Thom die ersten Tagespsychiatrischen Einrichtungen geschaffen, die ihre Fortsetzung in der heute noch vorhandenen gut vernetzten Struktur der Gemeindenahen Psychiatrie und einem bunten Angebot an niederschwelligen und leicht zugänglichen Gemeindezentren findet.

Doch der Reihe nach:
Zum warm werden wurde das Besuchsprogramm von einem Zusammentreffen mit Ratsmitgliedern und MitarbeiterInnen der GRÜNEN Leipziger Ratsfraktion und der örtlichen Bundestagsabgeordneten Monika Lazaar und den beiden Landesvorständen der GRÜNEN, Christin Melcher und Norman Volger eingeleitet. Neben inhaltlichen Diskussionsthemen aus der örtlichen Kommunalpolitik konnten sich die Gäste aus Bayern auch gleich einen Überblick über Leipzig vom Turm des Neuen Rathauses machen.

Uniklinik Modelleinrichtung Schädel-Hirn-Verletzte
Psychiatriemuseum
Netztfixierung im Psychiatriemuseum
Besuch bei Durchblick e.V.
Besuch in der DZB
Braille-Schreibmaschine
Deko: Gemeindezentrum von Durchblick
Harry Potter in Blindenschrift
Gedenkstätte Zwangsarbeit

In der Leipziger Universitätsklinik stellten Dr. Angelika Thöne–Otto, leitende Neuropsychologin und Prof. Dr. med. Hellmuth Obrig, stv. Klinikdirektor die Modelleinrichtung zur Rehabilitation von Schädel-Hirn-Verletzten (u.a. mit Tagesklinik) vor. Sozialarbeiterin Elvira Miedtank gab den BesucherInnen Einblick in die Arbeit des Netzwerk „Stammtisch Kopfsache“. Der „Stammtisch – Kopfsache“ bietet sowohl Menschen mit erworbenen Hirnschädigungen als auch Menschen, die in diesem Bereich engagiert sind, eine Plattform, persönliche Erfahrungen und fachliche Informationen auszutauschen.

Beim Verein Durchblick e.V. erfuhren die TeilnehmerInnen einen Einblick in die Arbeit einer der insgesamt acht niederschwellig arbeitenden Gemeindezentren Leipzigs, die neben dem sozialpsychiatrischen Diensten in Leipzig weitere leicht zugängliche Tagesangebote für Betroffene anbieten. Neben einem Personalschlüssel von einem/r Mitarbeiter/in im Sozialpsychiatrischen Dienst pro 25.000 Einwohner/innen, schafft es Leipzig, zusätzlich noch ca. eine/n Sozialarbeiter/in pro 27.000 Einwohner für solche niederschwellige unterstützende Angebote zu schaffen. Durchblick e.V. ist ein Träger eines Tageszentrums und ist ein Verein, deren Mitglieder und auch der Vorstand alle Menschen mit Psychiatrieerfahrung sind. Ihr Anliegen ist auch therapiefreie Räume zu schaffen.

Thomas Seyde, der Psychiatriekoordinator der Stadt Leipzig erläuterte die Struktur und die Vernetzung der psycho-sozialen Versorgungslage in Leipzig, gab einen kurzen historischen Abriss und beantwortete bereitwillig die vielen Fragen der interessierten BezirksrätInnen aus Bayern. Psychiatriekoordinatoren gibt es in Sachsen in allen Landkreisen und kreisfreien Städten. Sie sind Ansprechpartner für alle Bereiche der psychiatrischen Versorgung und u.a. zuständig für die Planung und Entwicklung bei der Versorgung von psychisch kranken Menschen. Für die Leitung der psychosozialen Arbeitsgemeinschaften, Ansprechpartner für die Themen Gerontopsychiatrie und Kinder- und Jugendpsychiatrie. In Leipzig organisiert er den Runder Tisch „Arbeit für psychisch kranke Menschen“, den Psychiatriebeirat Stadt Leipzig, organisiert und leitet das Psychoseseminar Leipzig, sowie des/der Patientenfürsprecher/in nach dem PsychKG.

Angegliedert an das Gemeindezentrum von Durchblick e.V. erhielten die BezirksrätInnen die Möglichkeit das Sächsische Psychiatriemuseum Leipzig zu besuchen und erhielten dort kundige Erläuterungen von Vorstandsmitgliedern des Vereins. Das Museum stellt in zehn Kapiteln Lebensgeschichten von Psychiatriepatienten, Biografien von Psychiatern und die Entwicklung von Institutionen der psychiatrischen Versorgung vor. Historische Sachzeugen vermitteln einen authentischen Eindruck von den Behandlungs­methoden der Psychiatrie und den Lebensbedingungen der Patienten. Dabei wird auch die grauenhafte Geschichte der Euthanasie und der Versuche an Menschen mit tödlichen Folgen während der Nazidiktatur aufgezeigt.

Eine weitere Leipziger Besonderheit konnten die BezirksrätInnen mit dem Verein „Irrsinnig Menschlich e.V.“ kennen lernen. Der Verein sieht seine Arbeit insbesondere darin, gegen die Stigmatisierung von psychisch Kranker in unserer Gesellschaft vorzugehen, denn die größte Hürde für von einer psychischen Krankheit Betroffenen ist sehr häufig die Angst, stigmatisiert zu werden. Irrsinnig Menschlich e.V. verkürzt mit seiner Präventionsarbeit in Schule, Studium und Unternehmen diese Zeitspanne. Der Verein hilft Menschen, ihre Not früher zu erkennen, sich nicht zu verstecken und Unterstützung anzunehmen. Ein ganz besonderes Projekt des Vereins ist die Arbeit in Schulen mit dem Projekt Verrückt? Na und!. Verrückt? Na und! ist ein Präventionsprogramm in Zusammenarbeit mit BARMER und www.gesundheitsziele.de. Methodisch und inhaltlich ist es so aufbereitet, dass es sich für Jugendliche und junge Erwachsene ab 14 Jahren in der Schule und Berufsschule eignet. Das Projekt soll an möglichst vielen Schulen in Deutschland Fuß fassen und auch für Bayern gibt es Bestrebungen des Vereins, es so weit wie möglich in die Schulen zu bringen. Mehr Infos und Ansprechpartner.
Die Bayerischen BezirksrätInnen nahmen mit auf dem Weg, sich in Bayern vor Ort darum zu kümmern, Kooperationspartner/innen für die Implementierung solcher Projekte an Bayerischen Schulen zu finden.

Ein weiteres highlight war der Besuch in der Deutschen Zentralbibliothek für –Blinde (DZB). Die DZB versorgt blinde und sehbehinderte Menschen mit einem vielfältigen Informations- und Literaturangebot. Sie ist in erster Linie Bibliothek, sondern vor allem Produktionsstätte. In der DZB werden Braille- und Hörbücher, Zeitschriften, Reliefs, Noten und vieles mehr produziert und zur kostenlosen Ausleihe und zum Verkauf angeboten. Die Besucher/innen konnten in den einzelnen Werkstattbereichen (Tonstudios, Übersetzung, Druckerei, Binderei u.v.m.) einen Einblick in die Produktion nehmen. 

Der Begriff „Soteria“ lockte die Bayerischen BezirksrätInnen in die Soteria-Klinik, in Leipzig eine Rehabilitationseinrichtung für Suchterkrankte. Nach der ersten Enttäuschung, dass hier keine Soteria im Sinne von Loren Mosher gezeigt werden konnte, waren die Besucher dann doch sehr beeindruckt von der Art und Weise, wie der therapeutische Leiter Josef Blaufuß mit den Drogenkranke arbeitet. Fünf suchtkranke Jugendliche führten durch die Klinik zeigten Therapie- und Wohnbereiche und berichteten auf Nachfrage von ihrer Krankheit und den therapeutischen Erfolgen

Den Abschluss aus dem Themenfeld machte der Besuch beim Verbund Gemeindenahe Psychiatrie St. Georg im Stadtteil Stötteritz, Chefärztin Maria Nollau erläuterte das Konzept und führte durch die Einrichtung. Der Verbund Gemeindenahe Psychiatrie Leipzig ist ein teilstationäres und ambulantes Behandlungs- und Beratungszentrum für Menschen mit psychischen Erkrankungen oder psychosozialen Problemen im Erwachsenenalter. Insgesamt fünf Standorte in Leipzig ermöglichen eine wohnortnahe Erreichbarkeit. Das für bayerische Verhältnisse ganz besondere Konzept ist die Verknüpfung der drei Betreuungsebenen Institutsambulanz, Tagesklinik und sozialpsychiatrischer Dienst. Damit wird sowohl eine psychologische bzw. psychiatrische Behandlung als auch eine psychosoziale Betreuung ermöglicht. Eine Besonderheit stellt das psychosoziale Beratungstelefon dar, das an Wochenenden sowie an Feiertagen jeweils von 08:00 bis 18:00 Uhr erreichbar ist. Das Angebot kann anonym von unmittelbar Betroffenen, Bekannten oder Verwandten sowie von Betreuungspersonen in Anspruch genommen werden, um einen ersten Ansprechpartner in seelischen oder psychischen Krisen zu finden.

Ein kurzer – aber dafür nicht weniger beeindruckender – Besuch erfolgte zum Abschluss der Reise in der Gedenkstätte für Zwangsarbeit im Leipziger Nordosten auf dem Gelände der ehemaligen Rüstungsfabrik HASAG – jetzt Gelände des Helmholtzinstituts für Umweltforschung. Die Gedenkstätte erinnert an die Opfer, das Unrecht und die Geschichte des NS-Zwangsarbeitseinsatzes in Deutschland und in den besetzten Gebieten während des NS-Regimes. Am Standort der HASAG, dem ehemals größten Rüstungsbetrieb Sachsens, erinnert sie exemplarisch an den Arbeitseinsatz von Millionen ziviler Zwangsarbeiter/innen, Kriegsgefangener und KZ-Häftlinge während des Zweiten Weltkriegs u.a. auch im städtischen Raum. Die Besuchergruppe wurde begleitet von Katharina Krefft, der Fraktionsvorsitzenden der GRÜNEN im Leipziger Stadtrat.

Alle TeilnehmerInnen waren sich einig, dass sich die Reise voll und ganz gelohnt hat. Der Wissenshorizont der GRÜNEN hat sich dadurch erneut stark erweitert. Als besonders hilfreich wurde erneut die Teilnahme der GRÜNEN Landtagsabgeordneten, Kerstin Celina, Sprecherin der GRÜNEN Landtagsfraktion für Sozialpolitik und Inklusion empfunden.

Über den Autor

AnjaOdendahl